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Rezensionen

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978-3-8440-5138-4
Ingrid Kästner, Michael Schippan (Hgg.)
Deutsch-russische Zusammenarbeit wissenschaftlicher und kultureller Institutionen vom 18. zum 20. Jahrhundert
Europäische Wissenschaftsbeziehungen
Rezension
GALINA SMAGINA, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 10 (2020) 1, S. 45-49, , 11.05.2021

Der hier rezensierte Konferenzbericht erschien in der Schriftenreihe Europäische Wissenschaftsbeziehungen, die von der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt herausgegeben wird. Der Band enthält Beiträge der im Titel genannten Tagung, die vom 21. bis zum 23. Oktober 2016 im „Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur“ in Berlin stattfand. Für die Organisation zeichnete die von Ingrid Kästner geleitete Projektkommission der Erfurter Akademie verantwortlich. Nach Grußworten zum Auftakt stellen in dem Konferenzband 17 ausgewiesene Fachwissenschaftler aus Deutschland und Lettland sowie der Russischen Föderation ihre Forschungsergebnisse sowie eigene Erfahrungen vor. DARIA BAROW-VASSILEVITSCH und CATHERINE SQUIRES üben in Ihrem Beitrag über die „Göttinger Absolventen an der Moskauer Kaiserlichen Universität und ihre Nachlässe in Moskauer Archiven“ Kritik an einigen Publikationen, in die Informationen aus früheren Veröffentlichungen einflossen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, systematisch nach neuen Primärquellen zu suchen, um diese auszuwerten. Die beiden Autorinnen wählten exemplarisch zwei Schlüsselfiguren aus der Geschichte der Universität Moskau aus und zeigen, dass in den dortigen Archiven und Bibliotheken noch unbekannte und richtungsweisende Dokumente zu finden sind. Den Autorinnen ist es gelungen, tagebuchartige Aufzeichnungen des einstigen Rektors und Geschichts-professors Johann Heyms (1758–1821) in der RARA-Abteilung der Moskauer Staatsuniversität aufzuspüren. Auch konnten neue Dokumente zu Professor Johann Rost (1726–1791) aufgefunden werden. Im Anhang werden Auszüge aus dem Brief-wechsel zwischen Rost und dem Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) aus dem Jahr 1761 veröffentlicht, die deren kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von François-Marie Arouet Voltaire (1694–1778) belegen. Der Medizinhistoriker und langjährige Sekretär der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt JÜRGEN KIEFER untersucht die „Russischen Kontakte der Erfurter Akademie der Wissenschaften“, wobei er sein Augenmerk insbesondere auf die zahlreichen Mitglieder der Erfurter Akademie richtet, die seit der Gründung der Akademie im Jahr 1754 bis zum Jahr 1917 in Russland tätig waren. Untersucht wurden auch die an dem Austausch zwischen Erfurt und Russland beteiligten Institutionen sowie Publikationen und Rezensionen über russische wissenschaftliche Einrichtungen, die in den Gelehrten-Zeitungen der Erfurter Akademie erschienen. In seiner gründlichen Studie gelangt Kiefer zum Ergebnis, dass Kontakte der Erfurter Akademie zu russischen wissenschaftlichen Einrichtungen vor allem auf einzelne Personen beschränkt waren. Deutlich wird dabei auch das Interesse der Akademie, ihren Mitgliedern und den Lesern der Erfurter Schriften die russische Wissenschaftslandschaft und das russische Verlagswesen nahezubringen. Im Mittelpunkt des Beitrages „Graf Friedrich von Anhalt (1732–1794) und die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen“ des Historikers MICHAEL SCHIPPAN steht der Sohn des Erbprinzen Gustav von Anhalt-Dessau (1699–1737) und Enkel des „Alten Dessauers“, Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau (1676–1747). Dieser Graf Friedrich von Anhalt, ein bestens ausgebildeter General, hat sich in Russland besondere Verdienste um Wissenschaft und Bildung erworben. Ab 1783 stand er in Diensten Katharinas II. als Präsident der Freien Ökonomischen Gesellschaft und als Direktor des Landkadettenkorps in St. Petersburg. Schippan, der zusammen mit Ljudmila B. Michajlova (Carskoe Selo) etwa 20 Jahre lang Leben und Wirken des Grafen erforschte, präsentiert bislang unbekannte, auf Primärquellen basierende Informationen. So spricht er Graf Friedrichs Förderung der geographisch-statistischen Landesaufnahme des Russischen Kaiserreichs sowie dessen Kontakte zur Gelehrtenwelt an. Der Berliner Sinologe HARTMUT WALRAVENS setzt seinen Bericht über die Forschungsreise des Memeler Arztes Johann Redowsky (1773–1807) von Irkutsk auf die Halbinsel Kamtschatka im Auftrage der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften fort (vgl. Hartmut Walravens: Johann Redowskys Reise von Irkutsk nach Kamtschatka, in: Ingrid Kästner / Jürgen Kiefer (Hg.): Reisen von Ärzten und Apothekern im 18. und 19. Jahrhundert. Aachen 2015, S. 103–134; vgl. auch Hartmut Walravens: Johann Redowskys Beschreibung der Jakuten (1807). Eine frühe, bisher unveröffentlichte Monographie, in: Ingrid Kästner / Wolfgang Geier (Hg.): Deutsch-russische kulturelle und wissenschaft-liche Wahrnehmungen und Wechselseitigkeiten vom 18. bis 20. Jahrhundert. Aachen 2016, S. 133–165). Im Konferenzband geht es um Redowskys wissenschaftlich hochinteressante Aufzeichnungen, die er auf dem Reiseweg von Jakutsk nach Ochotsk im Jahr 1806 machte. Die kommentierte kritische Edition des gesamten Reiseberichtes war zum Zeitpunkt der Tagung und des Erscheinens des hier rezensierten Konferenzberichts im Entstehen, sie wurde 2019 veröffentlicht. Die Naturwissenschaftshistorikerin ELENA ROUSSANOVA untersucht die ersten Pharmazeutischen Gesellschaften in Deutschland und in Russland und analysiert deren Gründungsdokumente. Es geht vor allem um den 1815 gegründeten Pharmazeutischen Verein in Bayern und um die 1818 ins Leben gerufene Pharmazeutische Gesellschaft zu St. Petersburg. Dabei gelangt die Autorin zu ganz neuen Forschungsergebnissen. Die die beiden Institutionen prägenden Wissenschaftler, Johann Andreas Buchner (1783–1852) in Bayern und Alexander Nicolaus Scherer (1771–1824) in St. Petersburg, standen in sehr enger Verbindung zueinander und teilten sich brieflich gegenseitig ihre Ideen, Forschungsergebnisse und Publikationen mit. Die in den Statuten beider Institutionen festgehaltenen Zwecke, Aufgaben sowie Strukturen beider Einrichtungen weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Zwischen den beiden Institutionen entwickelte sich sofort eine rege Zusammenarbeit – im Pharmazeutischen Verein in Bayern bezeichnete man die Gesellschaft in der russischen Hauptstadt als „Schwester“ und tauschte sowohl Schriften als auch Mitgliedschaften mit ihr aus. Die intensiven und facettenreichen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Gesellschaften liefern ein eindrucksvolles Beispiel für die deutsch-russische Zusammenarbeit zweier Institutionen derselben fachlichen Ausrichtung. Der Berliner Botaniker und Biologiehistoriker HANS-WALTER LACK und der St. Petersburger Botaniker DMITRIJ V. GELTMAN analysieren die Beziehungen zwischen dem Botanischen Garten und dem Botanischen Museum in Berlin-Dahlem einerseits und dem Botanischen V. L. Komarov-Institut in St. Petersburg andererseits. Den Anfang machen die Gründungen der Vorgängerinstitutionen, sodass sich ein Blick auf eine komplexe dreihundertjährige Geschichte eröffnet. Im Mittelpunkt des Beitrages steht Adolf Engler (1844–1930), der lange Zeit Direktor des Botanischen Gartens in Berlin-Dahlem war, sowie dessen Beziehungen zu Botanikern in Russland. Die Autoren berichten über vier Reisen Englers ins Russische Kaiserreich. Dieser inhaltsreiche Beitrag enthält zahlreiche neue, bislang noch nicht bekannte Informationen. Im Anhang wird ein Auszug aus dem Dienstreiseantrag Englers von 1896 veröffentlicht, der dessen Reise nach St. Petersburg, Helsingfors, Moskau, Nišnij Novgorod und Warschau sowie dessen Absicht, Pflanzen für Berlin zu erwerben, dokumentiert. Die Leipziger Medizinhistorikerin INGRID KÄSTNER zeigt, dass das im Jahr 1907 von Vladimir M. Bechterev (1857–1927) in St. Petersburg ins Leben gerufene Psycho-neurologische Institut nicht nur ein neuer, bis dahin noch nicht vorhandener Typ einer Wissenschaftsanstalt war, sondern infolge von gemeinsamen europäischen Bemühungen entstand, die das Ziel hatten, ein Institut speziell für Hirnforschung zu gründen. Anhand der Primärquellen beleuchtet die Autorin die Vorgeschichte, die Umstände sowie die Ziele von Bechterevs Gründung und weist nach, dass es sich tatsächlich um eine singuläre Institutionalisierung der Hirnforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelt. Mit den Forschungen über den Begründer der experimentellen Pädagogik Ernst Friedrich Wilhelm Meumann (1862–1915) und dessen russische Anhänger leistet die Moskauer Historikerin MARINA SOROKINA einen Beitrag zur Geschichte der Pädologie in Russland. Die Autorin konstatiert, dass es bislang keinen Überblick über die Entwicklung der psychologisch-pädagogischen Disziplinen in Russland bis 1917 gibt. Sie setzt sich mit Leben und Wirken von zwei russischen Anhängerinnen Meumanns auseinander. Auf diese Weise wird die Ausbreitung von dessen Lehren in Russland rekonstruiert. Es geht dabei um Anna M. Schubert (1881–1972), die von 1901 bis 1906 bei Meumann in Zürich studierte und später zahlreiche bahnbrechende Arbeiten zur Psychologie der Kinder veröffentlichte. Zu Meumanns Anhängerinnen zählte auch Elena V. Antipova (1892–1974), die eine erfolgreiche Tätigkeit in Brasilien entfalten konnte. Die Berliner Mathematikhistorikerin ANNETTE VOGT beschäftigt sich in einer hoch-interessanten Studie mit der in der Zwischenkriegszeit in Berlin aktiven Gesellschaft der Freunde des neuen Russland sowie mit deren Zeitschrift Das neue Russland (Untertitel Zeitschrift für Kultur und Wissenschaft). Die Autorin teilt brisante Informationen über die Tätigkeit der Gesellschaft in der Zeit von etwa 1923 bis 1933 mit. Sie schildert Details über die Mitarbeiter und den Arbeitsplan der Zeitschrift sowie über die dort erschienenen Reiseberichte deutscher Akademiker in die Sowjetunion. Die Autorin erläutert ferner einige Beispiele der Zusammenarbeit der Gesellschaft mit sowjetischen wissenschaftlichen Einrichtungen, die in der Zeitschrift ihren Niederschlag fanden. Einen ganz besonderen Platz im Konferenzband nehmen die wertvollen Beiträge von ANDREAS KLEINERT und PETER HOFFMANN ein. Beide Autoren beleuchten die Geschichte der Edition der Opera Omnia von Leonhard Euler (1707–1783), deren Bände seit 1907 erscheinen. Der Wissenschaftshistoriker Kleinert, einer der gegenwärtigen Herausgeber der Euler-Gesamtausgabe, spricht über die russisch-schweizerische Zusammenarbeit bei der Edition der Opera Omnia des genialen Mathematikers in den Jahren von 1907 bis 2007. Der Berliner Historiker Hoffmann teilt in seinem Beitrag „Zur Zusammenarbeit der Berliner und der sowjetischen Akademie im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts“ Erinnerungen an seine Mitarbeit an der Edition von Eulers Briefwechseln mit. Die Euler-Edition gilt als eines der größten Editionsprojekte in der Geschichte. Es ist besonders hervorzuheben, dass es den Organisatoren der Tagung lobenswerterweise gelungen ist, diese beiden Mitarbeiter am Euler-Projekt zu Wort kommen zu lassen, die, ausgehend von unterschiedlichen Standpunkten, verschiedene Aspekte in der Geschichte des Projekts beleuchten. Der Leipziger Historiker WOLFGANG GEIER spannt in seiner Untersuchung über die russisch-europäischen Wissenschaftsbeziehungen auf dem Gebiet der Soziologie, die vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reicht, einen Bogen von der Phase der Rezeption der neuen Disziplin Soziologie in Russland bis zu deren Etablierung. Dabei behandelt der Autor das Wirken der ersten Vertreter dieses Faches in Russland, Petr L. Lavrovs (1823–1900) und Maksim M. Kovalevskijs (1851–1916), die viele internationale Kontakte unterhielten. Der Autor wirft zusätzlich auch einen Blick auf russische Institutionen und Publikationsorgane auf dem Gebiet der Soziologie. Die Slawistin und ehemalige leitende Mitarbeiterin des 1945 in Berlin gegründeten Aufbau-Verlags MARGIT BRÄUER teilt ihre persönliche Erfahrungsgeschichte zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf dem Gebiet der Literatur. Diese Zusammenarbeit war überaus erfolgreich. Im Mittelpunk stehen gemeinsame Projekte des Aufbau-Verlags und des Moskauer Verlags Chudožestvennaja Literatura. Der Bericht von Margit Bräuer, ein Zeitzeugenbericht, enthält neben literaturgeschichtlich relevantem Material zahlreiche Photographien.Der lettische Medizinhistoriker JURIS SALAKS untersucht in seinem Beitrag die internationalen Beziehungen des Pauls Stradiņš Museums für Medizingeschichte in Riga seit dessen Gründung 1961 und liefert Belege, dass dieses Museum als Vermittler zwischen den Museen in Ost- und Westeuropa fungierte. Der Autor richtet seinen Blick nicht nur auf die Geschichte, sondern spricht auch über die Möglichkeiten einer zukünftigen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Medizingeschichte. Der in Berlin und in Kaliningrad tätige Gynäkologe ANDREAS D. EBERT beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der klinischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit von deutschen und russischen Frauenärzten am Beispiel der Deutsch-Russischen Gesell-schaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V., und zwar vor und nach 1990. Er misst der gegenwärtigen Kooperation auf dem Forschungsgebiet „Gesundheit von Mutter und Kind“ in den Zeiten der spürbaren Abkühlung der politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern große Bedeutung bei. Der Vorsitzende des Koch-Metschnikow-Forums (KMF) in Berlin HELMUT HAHN und sein Koautor TIMO ULRICHS betonen die wichtige Rolle des KMF als Vermittler im Gesundheitswesen zwischen Deutschland und Russland. Das im Jahr 2006 gegründete KMF, das sich als zivilgesellschaftliche Initiative von ehrenamtlichen Medizinern und Akademikern beider Länder versteht, ist eine Initiative, die aus dem St. Petersburger Dialog hervorgegangen ist. Dies brachte es mit sich, dass die Tätigkeit des KMF legitimiert und politisch verankert ist. Die Autoren berichten über die bilateralen Aktivi-täten des KMF sowie dessen Regierungsarbeit, und geben Auskunft über die Finan-zierung der Kooperationsprojekte. Der den Band abschließende Beitrag ist erneut MICHAEL SCHIPPAN zu verdanken, der hier einen inhaltsreichen Vortrag zu der die Tagung begleitenden wissenschaftlichen Exkursion mit dem Thema „Mit Sophie Charlotte, Leibniz und Euler nach Charlottenburg – historische Schlosspark-Impressionen“ präsentiert. In dem besprochenen Band wurde an die lange und für die beiden Länder so überaus fruchtbare Tradition der institutionellen Zusammenarbeit erinnert. Es wurden sowohl neue historische Erkenntnisse vermittelt als auch ein konstruktiver Beitrag zur aktuellen Diskussion über die Beziehungen Russlands zu Deutschland geleistet. Die Verfasserin dieser Besprechung kann diesen wissenschaftlich hochkarätigen Band, der ein breites Leserpublikum anspricht, nur wärmstens empfehlen.

978-3-8440-5138-4
Ingrid Kästner, Michael Schippan (Hgg.)
Deutsch-russische Zusammenarbeit wissenschaftlicher und kultureller Institutionen vom 18. zum 20. Jahrhundert
Europäische Wissenschaftsbeziehungen
Rezension
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft, 10.09.2018

In einer Zeit, in der alte Freund- und Feindbilder ins Wanken geraten und teilweise neu justiert werden, kann der vorliegende Sammelband1 durchaus wertvolle Orientierungshilfe leisten. Er enthält siebzehn Beiträge der vom 21. bis 23. Oktober 2016 in Berlin veranstalteten Tagung2 der Projektgruppe Europäische Wissenschaftsbeziehungen der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt und ist mit umfangreichem Bildmaterial ausgestattet. Nach der ersten Tagung im Februar 2015 in Erfurt ist es die zweite zu dieser Thematik,3 die einen aufschlußreichen Einblick in den Umfang und die Vielfalt der deutsch-russischen Kontakte und Kooperationen vermitteln will. In den beiden Grußworten, des Akademiepräsidenten Klaus Manger und des russischen Botschafters Vladimir Grinin, wird auf die besondere Bedeutung dieser Tagung und ihrer Thematik gerade in unserer von politischen Verwerfungen gekennzeichneten Zeit, hingewiesen. Abseits der Tagespolitik und der „Hysterie in den Mainstream-Medien“ zeigt diese grenzüberschreitende, von den jeweiligen Konjunkturen fast unberührte Zusammenarbeit in Wissenschaft, Kultur und Bildung zum gegenseitigen Nutzen ein solides und hoffnungsvolles Bild. Wie wichtig die Verbindungen zwischen der Göttinger und Moskauer Universität im 18. Jahrhundert für beiden Seiten waren, läßt sich, wenn auch die entsprechenden Archive noch unzureichend ausgewertet sind, schon erahnen, wie Daria Barow-Vassilevitch und Catherine Squires im ersten Beitrag des Sammelbandes über Göttinger Absolventen an der Moskauer Kaiserlichen Universität deutlich machen. Da die wissenschaftlichen Kontakte bis 1917 kaum Formalien unterlagen, wie wir sie kennen und wie sie manchmal die Zusammenarbeit eher behindern als fördern, lassen sich die frühen russischen Kontakte der Erfurter Akademie der Wissenschaften nicht ohne weiteres mit Dokumenten belegen. Daß sie bestanden, zeigt Jürgen Kiefer am unmittelbaren Wirken Erfurter Akademiemitglieder in Rußland, Doppelmitgliedschaften in der Erfurter und in der St. Petersburger Akademie usw. Auf die bisher kaum bekannte und gewürdigte Bedeutung des Grafen Carl Friedrich von Anhalt für den Ausbau der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen unter Katharina II. macht der Beitrag von Michael Schippan aufmerksam. Als nächstes legt uns Hartmut Walravens den vollständig abgedruckten vorletzten Teil aus dem vor allem für die Botanik ergiebigen Reisebericht des Memeler Arztes Johann Redowsky von Jakutsk nach Ochotsk vor. Gleich mehrere Beiträge widmen sich einem weiteren wichtigen Feld, nämlich der deutsch-russischen Zusammenarbeit in den Naturwissenschaften und vor allem in der Medizin. Sie stehen vielleicht etwas im Schatten der öffentlichkeitswirksameren Kontakte in der Kultur, sind aber sicherlich nicht weniger bedeutsam. So beleuchtet Elena Roussanova die engen Verbindungen zwischen den ersten Pharmazeutischen Gesellschaften in Deutschland und in Rußland, und Hans-Walter Lack und Dmitrij V. Geltman thematisieren die engen Beziehungen des Direktors des Königlichen Botanischen Gartens zu Berlin Adolf Engler zu Botanikern in Rußland. Ein wichtiges Kapitel für die Hirnforschung stellt die Gründung des Petersburger Psychoneurologischen Instituts 1907 dar, bei dessen Einrichtung der erste Direktor Alexander Bechterev die im Austausch mit deutschen Kollegen gesammelten Erfahrungen verwertet, welche Ingrid Kästner näher beschreibt. An die Bedeutung Ernst Friedrich Wilhelm Meumanns für die Entstehung der Anfang des 20. Jahrhunderts in Rußland zur Blüte kommenden und dann von den Kommunisten verbotenen Pädologie erinnert Marina Sorokina. Welche Funktion das Medizinhistorische Pauls-Stradins-Museum im damals russischen Riga als Mittler zwischen den Museen in Ost- und Westeuropa erfüllte, erläutert dann Juris Salaks. Weitere Beispiele für die engen deutschrussischen Beziehungen liefern die Zusammenarbeit von deutschen und russischen Frauenärzten vor und nach 1990 (Andreas D. Ebert) oder das Wirken des Koch-Metschnikow-Forums, gerade auch in schwierigen Zeiten (Helmut Hahn, Timo Ulrichs). Die über die Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland (1923 - 1933) kanalisierten Beziehungen zu sowjetischen Institutionen analysiert Annette Vogt und geht dabei näher auf die Rolle des deutschen Mathematikers Emil Julius Gumpel ein. Gleich zwei Arbeiten erläutern die verschiedenen Probleme der russischschweizerischen und dann später der deutsch-russischen Zusammenarbeit bei der Edition des Eulerschen Nachlasses (Andreas Kleinert; Peter Hoffmann). Eine direkte Zusammenarbeit war angezeigt, da so der Nachlaß des berühmten Schweizer Mathematikers Leonhard Euler, der nach dem Studium in Basel zunächst in Rußland und dann in Preußen wirkte, leichter zusammengeführt werden konnte. Auf den hoffnungsvollen Beginn der Soziologie in Rußland mit engen Beziehungen zu Westeuropa, die dann von den Kommunisten liquidiert wurde, geht Wolfgang Geier ein. Wehmütige Erinnerungen an die gute alte Zeit, die aber letztlich nicht immer so gut war, läßt Margit Brauer in ihren Erinnerungen an die fruchtbare Zusammenarbeit des Berliner Aufbau-Verlages mit dem Moskauer Verlag Chudožestvennaja Literatura aufkommen. Von vielen Früchten dieser einst umfangreichen Zusammenarbeit profitieren wir noch heute, wie die auch ökonomisch weniger profitabler Übersetzungen aus den kleineren Literaturen der Sowjetunion oder vorzügliche Übersetzungen klassischer russischer und sowjetrussischer Literatur illustrieren. Mit dem Einführungsvortrag von Michael Schippan zur abschließenden wissenschaftlichen Exkursion in das Schloß Charlottenburg enden die Vorträge dieser Veranstaltung, die uns ein beeindruckendes und informatives Panorama der vielseitigen und tiefen kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Völkern entwirft. Klaus Steinke 1 Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1096491613/04 2 Tagungsprogramm: www.hsozkult.de/event/id/termine-32060 [2018-08-04]. 3 Die Beiträge der ersten Tagung der Projektgruppe sind im folgenden Band veröffentlicht: Deutsch-russische kulturelle und wissenschaftliche Wahrnehmungen und Wechselseitigkeiten vom 18. zum 20. Jahrhundert / Ingrid Kästner, Wolfgang Geier (Hgg.). - Aachen : Shaker, 2016. - 305 S. : Ill. ; 21 cm. - (Europäische Wissenschaftsbeziehungen ; 11). - ISBN 978-3-8440-4438-6 : EUR 35.80 [#5203]. - Rez.: IFB 17-4 http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=8650

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